Erinnerungen eines Pferdekopfes

1. Mai 1950: Vom kriegszerstörten Brandenburger Tor soll die Quadriga abgenommen werden. Unter dem Kugelhagel und den Bombardierungen der letzten Kriegsjahre hat die berühmteste Statuengruppe Berlins sehr gelitten. Soviel davon retten wie möglich, lautet der Auftrag, ist dies doch das kupferne Original von 1793, das der junge Bildhauer Johann Gottfried Schadow (1764 –1850) entworfen hatte. Schon damals schmückte es das frühklassizistische Friedens- und Stadttor, mit dem der preußische König Friedrich Wilhelm II. an die Idee eines »Spree-Athen« anknüpfen wollte.
Monatelang hatte Schadow Pferdestudien betrieben, um die dreieinhalb Meter hohen Tiere möglichst originalgetreu aussehen zu lassen. Ihre Zügel legte er in die linke Hand der Wagenlenkerin. Die zunächst nackte Viktoria erhielt aufgrund allgemeiner Kritik bald ein fliegendes Gewand. Zusammen mit ihrem zweirädrigen Streitwagen misst sie fünfeinhalb Meter in der Höhe. In der rechten Hand hielt sie eine mit römischem Lorbeerkranz und Adler geschmückte Lanze. Mühsam muss die Arbeit für Schadows Kupferschmied Wilhelm Ernst Emanuel Jury gewesen sein, der die aus einzelnen, etwa 2 mm starken Kupferblechen mit dem Meißel getriebenen Statuen anfertigte. Eisenkonstruktionen hielten sie im Inneren zusammen. Auf die ursprünglich geplante Vergoldung verzichtete man schließlich. Anders als die Quadrigen anderer europäischer Städte empfing das Berliner Vierergespann nicht die vom Westen eintretenden Fremden. Viktorias Blick richtete sich damals wie heute gen Osten – auf Stadt und Schloss.
Nur 13 Jahre schmückte sie den Berliner Triumphbogen. Nachdem Napoleon auf seinem siegreichen Zug durch Europa auch Preußen erobert hatte, ließ er die Quadriga in Kisten verpackt im Dezember 1806 nach Paris schiffen. Sie sollte den neuerrichteten Arc de triomphe de Carrousel schmücken, durch den Napoleon 1807 wieder in Paris einziehen wollte. Mit der Quadriga sollte der Triumphbogen um einige Meter höher sein als das Brandenburger Tor. Doch die Restaurierungsarbeiten am Vierergespann dauerten so lang, dass schließlich die aus Venedig gestohlenen Pferde von San Marco, Reste einer der frühesten noch erhaltenen Quadrigen, den Platz auf dem Pariser Triumphbogen einnahmen.
In Berlin erinnerte der Befestigungsstab der Viktoria, der einsam auf dem Tor zurückblieb, an die Schmach. Welch ein Triumph war die Rückreise der Quadriga durch deutsche Städte nach dem Ende der Befreiungskriege. Als der preußische König Friedrich Wilhelm III. im August 1814 siegreich in Berlin einzog, stand die frisch restaurierte Statuengruppe bereits wieder auf dem Tor. In ihrer Hand hielt Viktoria nun einen von Karl Friedrich Schinkel entworfenen Speer mit Eichenkranz, Eisernem Kreuz und preußischem Adler mit ausgebreiteten Schwingen. Das Tor auf dem neubenannten Pariser Platz wurde zum Denkmal für Krieg und Triumph.

Fast 150 Jahre stand die Quadriga unbeschadet auf dem Brandenburger Tor, sah Könige und Kaiser, Bürger, Soldaten und Revolutionäre, Kutschen, Straßenbahnen und Autos vorbeiziehen und die kleine preußische Stadt zu einer modernen Großstadt heranwachsen, bevor ein diktatorisches System und ein Weltkrieg sie in Schutt und Asche legten. Im Mai 1945 hissten sowjetische Soldaten ihre Siegesfahnen auf dem Tor, auf dem nur noch die zwei linken Pferde und die Reste des Streitwagens standen. Im Zuge der Beseitigung von Architekturen und Skulpturen im öffentlichen Raum ab 1946, die Spuren des nationalsozialistischen oder preußischen Militarismus aufwiesen, sollte auch die Quadriga entfernt werden. Kontaktgespräche zwischen Ost- und West-Berlin, um eine gemeinsame Restaurierung des Denkmals vorzunehmen, scheiterten. Am 1. Mai 1950 wurde die beschädigte Quadriga zerlegt und abmontiert. Die meisten Teile wurden eingeschmolzen. Nur der Kopf des linken Pferdes blieb erhalten, gelangte 1952 ins Depot des Märkischen Museums und wurde erst in den 1990er-Jahren wieder ausgestellt. Der massive und doch fragil wirkende Pferdekopf mit den geflickten Einschusslöchern ist nun in der neuen Dauerausstellung BerlinZEIT zu sehen. Seine Geschichte erzählt der Berliner Rapper Romano im Audioguide.
Dank eines 1942 abgenommenen Gipsabgusses des Originals wacht auf dem Brandenburger Tor seither eine bronzene Kopie der Quadriga über die Berliner. Trotz anfänglicher Überlegungen Ost-Berlins, das Tor mit einer anderen Skulptur wie etwa Picassos Friedenstaube zu schmücken, entschied man sich schließlich doch für die Quadriga. Als sie im September 1958 auf das Tor aufgesetzt wurde, konnten Pferde und Wagenlenkerin kurzzeitig in ihrer ganzen Pracht und Größe bewundert werden. Wie Quadriga und Tor von einem Symbol für Frieden und Krieg zum Symbol für Teilung und Einheit wurden, ist jedoch eine andere Geschichte.
Mariette Heinrich
Dieser Artikel erschien im MuseumsJournal 2/2019.
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