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Erkennungszeichen Teddybär – Die Geschichte einer Flucht


Teddybär von Andrea Schmidt, um 1963. Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde © ENM. Foto: Andreas Tauber

Im November 1973 steht die zwöljährige Andrea mit ihrer ein Jahr älteren Schwester und ihrem Vater auf der Raststätte Köckern bei Bitterfeld. Unterm Arm trägt sie ihren Teddybären »Bärlihupf«, den sie 1963 zu ihrem zweiten Geburtstag geschenkt bekommen hat und der ihr kostbarster Besitz ist. Sie machen keine gewöhnliche Rast, sondern warten auf ihren Fluchthelfer. Der Teddybär soll Andrea auf der Flucht ihrer Familie aus der DDR in den Westen begleiten. Zugleich dient er als Erkennungszeichen: In der Hand ihres Vaters signalisiert er dem Fluchthelfer eine mögliche Gefährdung des Fluchtvorhabens. In Andreas Armen gibt er das Startsignal.

Ein Blick zurück: Das Ehepaar Ursula und Gustav Schmidt lebte mit seinen sechs Kindern in Berlin-Hohenschönhausen und betrieb dort eine private Kfz-Werkstatt. Im Laufe der Zeit wuchs der Druck der staatlichen Stellen auf den Privatunternehmer. Ende Februar 1973 demonstrierte das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der Familie die Macht der Staatspartei: Am frühen Morgen durchsuchten MfS-Mitarbeiter die Wohnung und verhörten das Ehepaar stundenlang. Die Schlinge zog sich enger. Dass ihre Enteignung und bei Zuwiderhandlung gar ihre Verhaftung vorgesehen war, blieb dem Ehepaar nicht mehr verborgen. So fassten sie den Entschluss, die DDR zu verlassen. Nicht alle ihre zum Teil schon erwachsenen Kinder konnten sie auf der Flucht in den Westen mitnehmen, aber ihre beiden jüngsten Töchter wollten sie bei sich haben.

Vergeblich versuchte die Familie zunächst, mit dem Auto über die ungarisch-österreichische und die jugoslawisch-österreichische Grenze zu fliehen. Nach ihrer Rückkehr nach Ost-Berlin erfuhr Ursula Schmidt aus dem DDR-Fernsehen von der Fluchthilfegruppe um Kay Mierendorff, dessen Bruder in der DDR verhaftet worden war. Ein neuer Fluchtplan entstand. Als Invalidenrentnerin konnte Ursula Schmidt nach West-Berlin reisen und nutzte diese Möglichkeit am 2.November 1973, von wo aus sie die Flucht ihres Mannes und ihrer Töchter organisierte. Sie suchte Kontakt zu Kay Mierendorff und brachte mühsam die 10000 D-Mark für die Fluchthilfe auf. Die Fluchthelfer planten, die drei Personen in einem speziell präparierten Auto über die Transitautobahn aus der DDR zu schleusen.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen gelingt am 22.November 1973 die Kontaktaufnahme zwischen dem Fluchthelfer und Gustav Schmidt. Ein Treffpunkt kann vereinbart werden. Wie verabredet hält der Fluchthelfer an der Raststätte Köckern, als er den Teddybären in der Hand des Mädchens sieht, und lässt den Vater mit seinen beiden Töchtern einsteigen. Im Innern des Autos klettern sie unter die Rückbank des Wagens. Im Wissen, dass die kleinste Bewegung sie bei einer Fahrzeugkontrolle verraten könnte, hält der Vater seine müden Töchter in der Enge ihres Verstecks wach. Über die Autobahn geht die Fahrt zum Grenzübergang Herleshausen. Die Flucht ist erfolgreich: Von Frankfurt am Main fliegen Vater und Töchter nach West-Berlin, wo sich die Familie wieder glücklich in die Arme schließen kann und gemeinsam ins Notaufnahmelager Marienfelde geht.

Das Notaufnahmelager Marienfelde war fast 40 Jahre lang die zentrale Anlaufstelle in West-Berlin für Flüchtlinge und Übersiedler aus der DDR. Rund 1,35 Millionen Menschen durchliefen hier zwischen 1953 und 1990 das Aufnahmeverfahren, um eine Aufenthaltsgenehmigung für West- Berlin und die Bundesrepublik zu erhalten. Zu ihnen gehörte auch die Familie Schmidt, die drei Monate im Notaufnahmelager verbringen und dort die zahlreichen Befragungen absolvieren musste. In ihrer kargen Unterkunft wurde ihnen der soziale Abstieg, den ihre Flucht mit sich brachte, schmerzlich bewusst. Ihren Besitz hatten sie nahezu komplett zurücklassen müssen und waren nun mittellos. Sozialhilfe wollten sie nicht in Anspruch nehmen und suchten sich umgehend Arbeit. Der Neuanfang war schwer, zumal sie als Flüchtlinge immer wieder mit Vorbehalten konfrontiert waren, aber er gelang. Am 1. März 1974 konnte die Familie in eine möblierte Wohnung in Berlin-Wilmersdorf ziehen. Doch die Familie, besonders der Vater, fühlte sich in der eingemauerten Stadt eingesperrt und entschloss sich zum Umzug in die Lüneburger Heide, wo die Eltern auf einem Gestüt Arbeit fanden.

Belastend blieb jedoch die Trennung von den vier Kindern, die in der DDR geblieben waren. Die Eltern versuchten, zwei ihrer Söhne ebenfalls mit einem Fluchthelfer in den Westen zu holen. Dieses Mal scheiterte die Flucht mit dem Auto, die 18- und 19-jährigen Söhne wurden verhaftet und zu mehrjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Zwei Jahre verbrachten sie in Haft, ehe sie 1976 von der Bundesrepublik freigekauft wurden.

Andreas Teddybär gehört heute zu den über 900 Exponaten in der ständigen Ausstellung »Flucht im geteilten Deutschland« der Erinnerungsstätte im ehemaligen Haupthaus des Notaufnahmelagers Marienfelde. In Kombination mit zahlreichen Zeitzeugenberichten und Dokumenten erzählen sie von Fluchtmotiven und -wegen, von der Zeit im Notaufnahmelager sowie von den Herausforderungen beim Neubeginn in der Bundesrepublik, wie auch die Familie Schmidt sie bewältigen musste.

Susanne Muhle

Die Autorin war wissenschaftliche Volontärin bei der Stiftung Berliner Mauer, zu der die Erinnerungsstätte Notaufnahmelager Marienfelde gehört. Der Artikel erschien auch im MuseumsJournal 3/2011.

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