Outreach
Museen und Kultureinrichtungen stehen vor großen Herausforderungen. Ihren öffentlichen Auftrag, der gesamten Gesellschaft zu Bildung zu verhelfen und dabei Vergnügen zu bereiten, können viele Institutionen durch klassische Vermittlung nicht erfüllen. So divers die Welt draußen ist, soll die Innenwelt der Museen auch werden. Das ist die Hoffnung und der Anspruch. Expert*innen aus verschiedenen Institutionen und dem Kulturmanagement erklären, wie sie neue Zielgruppen ansprechen und welche Erfolge sie dabei verzeichnen. "Outreach ist kein Spielen am Rande. Es ist eine Haltung", heißt es da präzise zusammengefasst. Ein Beitrag aus dem aktuellen Museumsjournal (Ausgabe 3/2022).
Brücke-Museum
Daniela Bystron, Curator of Outreach
Outreach ist ein sperriges Wort, ein ungenau eingedeutschter Anglizismus. Der Begriff funktioniert eigentlich überhaupt nicht für die Menschen, mit denen wir in den Austausch, ins Arbeiten, Handeln und Denken kommen wollen! Schon fast typisch für die Museen. Aber: Es ist immer gut, ein Wort zu haben, das irritiert und keine eindeutigen Erfahrungen oder Bilder hervorruft. Outreach ist kein Spielen am Rande der Institution. Es ist eine Haltung. Es umfasst etwa das Wissen um und die Analyse von Ausschlussmechanismen wie Klassismus, Diskriminierung oder Rassismus sowie die Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion. Diversität kann das Museum strukturell verändern. Wenn wir gesellschaftlich relevant sein wollen, müssen wir eine aktive, langfristige und politische Teilhabe ermöglichen. In dem digitalen, partizipativen Projekt »Various Answers« haben wir über ein Jahr mit Fokusgruppen zu Werken der Sammlung gearbeitet. Es geht um diverse und alternative Formen der Kontexualisierung von Kunstwerken und deren Neubefragung, verbunden mit der Frage: Was hat das mit mir zu tun?
Stiftung Berliner Mauer
Gülşah Stapel, Kuratorin Outreach
Outreach bedeutet, Verbindungen auf historischer wie menschlicher Ebene herzustellen und Verantwortung für gesellschaftspolitische Diskurse zu übernehmen. Ambivalenz, Pluralität und Irritation sind der Gesellschaft inhärent, Outreach sollte das erfahrbar machen sowie dazu beitragen, identitäts- und ideologisch umkämpfte Themen zu entschärfen und Wege der Annäherung und des konstruktiven Streitens zu befördern. Letztendlich ist Outreach eine Querschnittsaufgabe, die Kulturinstitutionen nahbarer machen soll, und zwar für möglichst alle. Outreach ist aber kein klar umrissenes Feld. Die Inhalte folgen keinen etablierten Strukturen. Wenn ich etwas an der Grundhaltung im Museum verändern möchte, stoße ich hier und da auf Misstrauen. Ich muss viel Zeit in den Aufbau von Vertrauen investieren. Die Stiftung Berliner Mauer mit ihrem historisch-politischen Bildungsauftrag soll auch demokratische Grundwerte vermitteln. Unsere Themen haben nationale Relevanz, wir wenden uns hauptsächlich an Schulgruppen. Gedenkstätten und Erinnerungsorte können sehr einschüchternd wirken. Wir wollen physische, aber auch sprachliche und symbolische Barrieren abbauen und Outreach nicht nur für bestimmte Altersgruppen und soziale Milieus denken, Angebote ganzheitlicher denken und marginalisierte Perspektiven stärken. Wenn Museen sich öffnen, können sie viel von Menschen lernen, die Bedarf an (Begegnungs-)Räumen haben. Dabei geht es auch um das Lernen aus Situationen, in denen etwas schief geht. Ich empfinde das wöchentliche Sprachcafé mit deutschsprachigen ehrenamtlichen Menschen aus der Nachbarschaft und geflüchteten Menschen aus einem Übergangswohnheim derzeit als größten Erfolg. Aufgrund unserer Arbeit kommen zunehmend mehrsprachige und geflüchtete Menschen zu uns.
Berlinische Galerie
Christine van Haaren, Leitung Bildung und Outreach
Bei Outreach geht es um die Frage, welche Ausschlüsse das Museum produziert und wie wir diese abbauen können. Das betrifft weniger die Zielgruppen als die Strukturen des Museums. Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass sich Museen mit sich selbst auseinandersetzen. Ein Wissen um Rassismus, Diskriminierung oder Ausschlüsse ist häufig nicht vorhanden. Für einen langfristigen Wandel ist Veränderung auf allen Ebenen nötig: Programm, Publikum und Personal. Es ist interessant, wie unser Stammpublikum auf Gäste reagiert, die es nicht in einem Museum für moderne Kunst erwartet. Von fast schon penetranter Neugier über Abwehrreaktionen bis hin zu aufrichtigem Interesse ist alles dabei. Mein Ziel ist es, dauerhafte Kontakte zu Gruppen aufzubauen, die von Rassismus oder Ableismus betroffen sind. Im Programm »Standortwechsel« etwa, einer Art Mini-Residenzprogramm, laden wir jeweils für ein Jahr Künstler*innen ein, in der Berlinischen Galerie im Atelier zu arbeiten. Ich freue mich auch, wenn Schüler*innen einer Willkommensklasse nach einem Jahr weiterhin am Programm teilnehmen möchten. Perspektivisch müssen wir Strukturen erarbeiten, wie sich Gruppen von außen dauerhaft in die Programmgestaltung einbringen können. Nur so kann ein Museum ein relevanter Ort werden und dauerhaft bleiben.
Museumsdienst Berlin
Paolo Stolpmann, Leiter
Zu Outreach kommt es meist, wenn die Institution ihre Komfortzone verlässt. Langfristigkeit ist entscheidend, einmalige Treffen oder einzelne Veranstaltungen werden der Aufgabe nicht gerecht. Die Herausforderung besteht darin, sich nicht hinter undurchdringlichen Konzepten zu verstecken. Wir fragen uns stets: Für wen ist ein Angebot relevant und warum? Und wen erreicht mein Angebot trotz erkennbarer Relevanz nicht? Niedrigschwellig zu sein, bedeutet nicht, auf Anspruch zu verzichten. Meist unterteilt sich die Arbeit in Programme für die jeweiligen Nachbarschaften und langfristige Schulkooperationen. Outreach muss authentisch sein. Ein Kunstmuseum bleibt ein Kunstmuseum, mit oder ohne Outreach. Viele Programme versuchen verstärkt, selbst interessant zu sein, anstatt sich für die Geschichten und Meinungen der Menschen zu interessieren. Die größten Barrieren in der musealen Bildungsarbeit schafft sicherlich die zeitgenössische Kunst. 2021 hat der Museumsdienst mit der Berlin Art Week und der Künstlerin Sol Calero vor dem Kindl einen offenen Treffpunkt mit großer Anziehungskraft entwickelt. Workshops, Gespräche, gemeinsames Essen, Musik, Sport, Performances und eine Kunstinstallation liefen teils parallel und kostenfrei. Es mischten sich Künstler*innen und Familien aus der Nachbarschaft, Anwohner*innen und Kunstbegeisterte. Solange Museen zehn Euro Eintritt oder mehr für einen Besuch verlangen müssen, um wirtschaftlich zu arbeiten, ist es kaum möglich, die Outreach-Ziele zu erreichen. Um Identifikation zu ermöglichen, müssen Museen vielfältigere Erzählungen bereithalten.
Achtet AlisMB
Jugendgremium der Staatlichen Museen zu Berlin
Als Gruppe junger Menschen mit diversen Hintergründen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren erarbeiten wir mit Kurator*innen und Kunstvermittler*innen wie auch eigenständig Vermittlungsformate und machen Outreach-Arbeit. Wir möchten die Perspektiven, Wünsche und Erfahrungen des jungen Museumspublikums, aber auch der Nichtbesucher*innen stärker einbringen. Unser Gremium steht für Demokratisierung im Museum. Wir wollen ein Museum, das mit dem Alltag junger Menschen verknüpft ist. Dafür öffnen wir es als diversen Raum und schaffen Möglichkeiten für Diskussionen und Aktionen. Begegnungen auf Augenhöhe sind uns besonders wichtig. Als eines von wenigen weiteren Jugendgremien ist Achtet AlisMB ein Modellprojekt in der deutschen Museumslandschaft und noch sehr neu für die Strukturen einer großen Institution wie der Stiftung Preußischer Kulturbesitz. An jedem Punkt unserer Entwicklung suchen wir individuelle Handlungsräume und arbeiten aktiv an der Umsetzung unserer Vision mit – das ist einerseits eine wertvolle Möglichkeit für partizipative Prozesse, andererseits langwierige Bürokratie abseits kreativer Projekte.
Stadtmuseum Berlin
Constanze Schröder, Leitung des Fachbereichs Bildung und Vermittlung
Das Weltstudio in der Ausstellung »Berlin Global« ist der Ort für Workshops und Vermittlung, für spontanes Mitmachen und Verweilen und für Kooperationen mit der Stadtgesellschaft. Die drei raumgreifenden Installationen Fadenkartograf, Kugelkartograf und Personenkartograf thematisieren niederschwellig die Methode der Kartografie und hinterfragen Denkmuster zur Welt. Alle sind eingeladen, sich nach dem Ausstellungsrundgang über Berlin in der Welt und die Vernetzung der Welt mit Berlin auszutauschen und in entspannter Atmosphäre aktiv zu werden. Das haptische Erlebnis steht im Fokus. Aus Fäden entsteht eine wachsende Webkarte, am Kugelkartografen kann man Wegbeschreibungen zu einem Lieblingsort an eine unbekannte Person versenden und auf Riesenpostern sind Verbindungen mit der Welt dargestellt. Auf digitale Zugänge oder mediale Endgeräte wird bewusst verzichtet. Beteiligung und Interaktion lassen das Weltstudio wachsen und variieren sein Erscheinungsbild.
Bauhaus Archiv/Museum für Gestaltung
Friederike Holländer, Leitung Bildung und Vermittlung
Wir müssen Strategien entwickeln, um mit der Stadtgesellschaft in Kontakt zu kommen, wir sind daher selbst unterwegs. Ergänzend arbeiten wir mit unterschiedlichen Partner*innen an langfristigen Projekten. Das Bauhaus-Archiv befindet sich in einem sehr heterogenen städtischen Umfeld. Wir wollen unsere Rolle als Institution in diesem Quartier vielfältiger gestalten und stärken und interessieren uns daher insbesondere für unsere Nachbarschaft. Niedrigschwelligkeit ist eine anspruchsvolle Aufgabe, wenn wir die Interessen und Bedürfnisse der Menschen, mit denen wir zusammenarbeiten, ernst nehmen. Kooperationen brauchen Zeit und Engagement. Outreach muss als Aufgabe des ganzen Hauses begriffen werden, für die es Ressourcen braucht. Mit unserer Reihe "Bauhaus_RaumLabor" möchten wir bereits Kindern zeigen, dass das Museum ein Ort ist, an dem ihre Perspektive ernst genommen wird. Einer unserer Leitsätze ist daher: Kinder sind nicht das Publikum von morgen, sondern die Besucher*innen von heute.
Werkbundarchiv – Museum der Dinge
Dorothea Leicht, Kuratorin für Outreach
Unsere diverse Gesellschaft spiegelt sich bislang nur in Ansätzen in unserem Team und unserer Museumsarbeit wider. Das möchten wir nachhaltig verändern. Wir begreifen Outreach als eine Querschnittsaufgabe, die alle Bereiche betrifft: Personal, Programm, Publikum und Zugänge. Wir wollen unsere Nachbarschaft besser erreichen und eine Anlaufstelle für Freizeitgestaltung und außerschulischer Lernort sein. Unterschiedliche Menschen sollen sich angesprochen und repräsentiert fühlen. Wir bringen andererseits das Museum in das vertraute Lebensumfeld der Bürger*innen, z.B. in Schulen oder Senior*innenheime im Kiez. Eine große Herausforderung ist es, das gesamte Museumsteam mitzunehmen (Inreach). Dank räumlicher Veränderungen wird das Haus einladender, wir bauen wortwörtlich Barrieren ab. Neue Zugänge haben wir auch auf sprachlicher und inhaltlicher Ebene geschaffen, etwa mit unserer App. Eine Route behandelt speziell Objekte, die unsere Vorstellung von geschlechtlicher Identität hinterfragt. Auch der eintrittsfreie Sonntag ist ein Erfolg. Wir haben viel Zeit und Mühe in ein besonderes Programm gesteckt, hätten jedoch nicht mit solch überwältigender Resonanz gerechnet.
Staatliche Museen zu Berlin
Heike Kropff, Abteilungsleitung Bildung/Kommunikation
Ich verstehe unter Outreach einen systematischen Prozess, der die Haltung der Kulturinstitution, deren Gefasstheit und Programmatik verändern soll, um ein die Gesellschaft widerspiegelndes Publikum zu erreichen. Mit dem Begriff »niedrigschwellig« tue ich mich schwer. Vielmehr geht es darum, Anknüpfungspunkte aufzuspüren: Was müssen wir zum Beispiel tun, damit unser Publikum »Andockmöglichkeiten« zwischen Interessen, Kompetenzen und Fragestellungen sowie den Objekten der Museen findet? Seit fast zehn Jahren initiieren wir große Projekte, um Menschen zu erreichen, die in den Museen unterrepräsentiert sind. Die systematische Arbeit mit Schulen ist dabei ein Schwerpunkt, keine andere Institution bildet die gesellschaftliche Diversität so gut ab. Wir zielen aber auch auf besonders heterogene Nutzer*innengruppen oder arbeiten mit sozialräumlichen Bündnispartner*innen aus der Kinder- und Jugendhilfe zusammen. Daraus resultiert ein riesengroßer Erfahrungsschatz, den wir auf alle Staatlichen Museen übertragen können. Dafür bräuchten wir jedoch weitaus mehr Ressourcen, auch um die gewonnenen Kompetenzen mit anderen Institutionen zu teilen. Wir erleben in den Projekten eine hohe Akzeptanz. Im Haus Bastian – Zentrum für kulturelle Bildung loten wir neue Möglichkeitsräume aus. Der Museumssonntag verändert das Publikum selbst an tourismusstarken Standorten wie der Museumsinsel. Das sind erfreuliche Entwicklungen, die zeigen, dass kulturelle Teilhabe machbar ist. Es ist jedoch noch viel Luft nach oben. Aus meiner Sicht ist das unsere Kernaufgabe der nächsten Jahre.
Senatsverwaltung für Kultur und Europa
Christine Regus, Leitung des Referats Museen, Gedenkstätten und Einrichtungen bildender Kunst
Outreach – das englische Wort für Reichweite – ist ein zentrales Thema für Museen. Sie sollen als Diskursräume fungieren, relevant bleiben und Zielgruppen erreichen, die bisher zu wenig angesprochen werden. Durch Kooperationen – etwa mit Werkstätten für Menschen mit Beeinträchtigungen, Nachbarschaftsvereinen, Jugendzentren und Volkshochschulen – werden Menschen erreicht, die oftmals nicht wissen, was die Museen ihnen bieten können. Natürlich sorgt Outreach nicht dafür, dass alle ins Museum kommen – es gibt ja auch Leute, die grundsätzlich kein Interesse haben. Oft wird Outreach allein auf Maßnahmen zur Ansprache neuer Besucher*innen reduziert. Es ist aber genauso wichtig, dass sich die Inhalte, der Kanon, die Programme ändern. Outreach muss verschränkt mit einer diversitätsorientierten Organisationsentwicklung gedacht werden. Weil es dabei um die Pflege von Beziehungen und Vertrauen geht, erfordert es viel Zeit und personelle Kontinuitäten. So haben wir das Programm der Outreach-Kurator*innen dauerhaft verankern können. Sie streben in ihren Häusern einen Öffnungsprozess nach innen und nach außen an. Die Berliner Museen befinden sich auf dem richtigen Weg. Praktisch alle berichten zum Beispiel jetzt schon, dass das Publikum am Museumssonntag diverser ist als sonst.